Abendessen mit dem Abt

Aigle - Saint Maurice (18 km)

   Als ich mich bei Madame Mottier zum Frühstück niederlasse, bin ich überrascht. So einen reich gedeckten Tisch hatte ich schon lange nicht mehr. Sogar Wurst und Schinken entdecke ich, das ist ja mal ganz was anderes. Madame registriert meinen erstaunten Blick. “Immer wenn ich Pilger aus Deutschland hier habe, lege ich Wurst und Schinken mit auf den Tisch. Ich weiß, dass Deutsche das so mögen. Wir selbst frühstücken ja kaum.“

   Ich unterhalte mich die ganze Zeit in Englisch mit ihr, manchmal sogar mit ein paar Brocken Deutsch dazwischengestreut. Am Telefon vor drei Tagen behauptete sie noch, weder das eine noch das andere zu können, nur Französisch. Hier wiederholt sich eine Erfahrung, die Annika und ich schon auf dem Jakobsweg in Frankreich gemacht haben. Erstmal wird bestritten, etwas anderes als Französisch zu können. Erst später, wenn wir einige Sätze gewechselt hatten, uns selbst hilflos wegen der mangelnden Verständigung zeigten und doch ein paar Brocken Englisch einstreuten, verloren viele, die wir trafen, ihre eigene Unsicherheit und ließen es zu, Fehler in der Grammatik oder Lücken im Sprachschatz zu offenbaren. Dann wurde munter einhergeplappert und man verstand sich. So ist es bei Madame Mottier jetzt auch.

   Noch bevor ich gestern kam, hatte sie an meinem nächsten und übernächsten Etappenziel, Saint Maurice bzw. Martigny, telefonisch angefragt, ob ein Bett für mich zur Verfügung stünde, und positive Rückmeldungen dazu bekommen. Als ich sie nun beim Frühstück bitte, mir bei den Reservierungen zu helfen, beginnt ihr Gesicht zu strahlen und sie erklärt mir stolz, dass schon alles erledigt sei. Im Kloster von Saint Maurice und in einem Haus der katholischen Kirche in Martigny warteten schon zwei Zimmer auf mich. Ich bin platt. “Ich weiß doch, dass Pilger immer nach preisgünstigen Schlafmöglichkeiten suchen. Hätten Sie jetzt etwas anderes vorgehabt, hätte ich immer noch wieder absagen können.“ Das wäre jetzt natürlich eine Verfahrensweise für die Zukunft, doch das wäre wohl zu viel des Guten. Beim Abschied bedanke ich mich für so viel Gastfreundschaft, selbst die zwei kleinen Flaschen Bier von gestern Abend berechnet sie mir nicht.

   Nur wenige hundert Meter von Madame Mottiers Häuschen steht auf einem kleinen Hügel, umringt von Weinhängen, das wehrhafte Château d'Aigle mit seinen drei Rundtürmen, dem viereckigen Bergfried und dem Wehrgang. Im 12. Jahrhundert wurde es für das Haus Savoyen errichtet und diente im Laufe der Jahrhunderte schon als Spital, Gefängnis und Gericht. Seit 1971 befindet sich in seinen Räumen ein Weinbaumuseum. Als ich nach einem kleinen Anstieg vor dem großen Tor ankomme, ist eine Gruppe von etwa 30 Menschen dort zur Weinprobe versammelt, um 9.30 Uhr. Die Stimmung ist zwar angeregt, aber noch nicht ausgelassen, doch was nicht ist, kann ja noch werden. Hätte man mich hinzugewunken, wäre ich wohl der Versuchung erlegen. Das schöne Wetter und die herrliche “Location“ - der Weinberg, vor dem wir stehen, heißt “Clos du Paradis“ - wären der richtige Rahmen für meine kleine, private Feier gewesen.

   Habe ich was zu feiern? Ich denke schon! Exakt an dieser Stelle habe ich meine 1.000-Kilometer-Marke erreicht. Einen schöneren Ort, um dafür innezuhalten, sich vielleicht selbst zu beglückwünschen, kann es eigentlich nicht geben. Nach 1.000 Kilometern und fast genau der Hälfte der Strecke von zu Hause bis nach Rom habe ich meinen Rhythmus gefunden, weiß jetzt noch besser, wie ich ticke, und wie ich mich am besten motivieren kann (meine Ziele vorausschauend stecken, und es gelassen nehmen, wenn eventuell mal irgendetwas dazwischenkommt und ich sie daher am nächsten Tag erreiche). Gelassenheit und viel Geduld mit mir selbst, ist das zweite. Das setzt eine gewisse Selbstsicherheit voraus, die Gewissheit, dass ich auf jeden Fall schaffen kann, was ich auch wirklich will, wie auch immer die Umstände sein mögen, welche Umwege oder zusätzliche Zeiten ich in Kauf nehmen muss. Diese Gewissheit erlange ich am besten durch positive Erfahrungen mit mir selbst, die mir dies bestätigen. Dass Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft den Menschen gegenüber auch irgendwann auf mich selbst zurückkommt, wusste ich schon vorher. Trotzdem halte ich es für eine wichtige Erkenntnis, und bis jetzt hat es mir mein Weg nur einmal mehr deutlich bewusst gemacht.

   Kurz nach dem Château d'Aigle wächst auf meiner rechten Seite “olympischer Wein“ heran. Zu Ehren des langjährigen Präsidenten des Internationalen Olympischen Komitees, Juan Antonio Samaranch, wurde der Weinberg “Vigne Olympique“ vor einiger Zeit angelegt. In diesem Weinberg, wie auch in den vielen, die heute noch folgen werden, sehe ich Menschen, manchmal ganze Kolonnen, arbeiten. Es wird geschnitten, gebunden - und gespritzt.

   Hinter den Weinbergen geht es bergauf in den Wald hinein, und als ich oben wieder aus ihm heraustrete, liegt unter mir das Rhonetal. Mittendrin in einer sonst brettflachen Schwemmlandebene liegen zwei bewaldete Hügel wie grüne Blasen, Ablagerungen des alten Rhonegletschers. Grüne und braune Flächen lassen die ganze Ebene wie eine gewaltige Patchworkarbeit erscheinen, durchzogen von Straßen, Eisenbahnlinien, der Autobahn, Baumreihen und, natürlich, der Rhone selbst. Kleine Orte und Industriegebiete durchbrechen diesen Flickenteppich und alles ist eingerahmt von mehr als 2.000 m hohen Bergen.

   Kantonalstraße, Autobahn und Eisenbahnschienen haben ein Ziel: Dort, wo die Rhone sich ganz im Süden zwischen hohen Felsen durchzwängt, ist die enge Schlüsselstelle des Rhonetals. Jeder, der, in Friedens- oder Kriegszeiten, über den St. Bernhard-Pass wollte, musste durch diesen schmalen Durchlass. Deshalb erhebt sich an dieser Stelle nicht nur das Chateau Saint Maurice, das im Mittelalter diese Stelle kontrollierte, sondern der ganze Berghang ist festungsartig in seinem Inneren ausgebaut, von außen nicht zu erkennen, von innen mittlerweile zur Besichtigung freigegeben.

   Auf diesen Engpass laufe ich nun zwei Stunden zu. Der Himmel hat sich mittlerweile, nach einem sonnigen Morgen, immer weiter zugezogen, und die Wettervorhersage und Madame Mottier scheinen wohl Recht zu behalten, dass es spätestens heute Nacht regnen wird. Auf der Fußgängerbrücke von Massongex überquere ich die Rhône, die nicht leugnen kann, dass sie ein Gletscherfluss ist. Hellgrün, mit viel Wasser im Gepäck, strömt sie dem Genfer See entgegen.

 

 

   Neben einer Bushaltestelle in der Nähe des kleinen Bahnhofs von Massongex lege ich meine heutige Rast ein, auch wenn es kaum noch eine Stunde ist bis zu meinem heutigen Ziel. Offensichtlich ist gerade die Schule aus und immer mehr Schülerinnen und Schüler sammeln sich an der Haltestelle oder streben dem Bahnhof zu. Mir fällt auf, dass die meisten von ihnen mich freundlich grüßen, ausgesprochen gelassen ihr Schulende begehen und äußerst diszipliniert in den ankommenden Bus einsteigen. Zu Hause bei uns sieht das manchmal etwas anders aus. Bessere Erziehung,  Erschöpfung oder einfach nur Zufall?

   Die Rezeptionistin am Eingang der Klosteranlage von Saint Maurice empfängt mich freundlich, hat aber mit mir ein gewisses Verständigungsproblem. Es dauert einige Zeit, bis sie versteht, dass hier für heute Nacht ein Zimmer für mich reserviert ist. Daraufhin telefoniert sie etwas aufgeregt und nach einer kurzen Zeit kommt ein recht alter Klosterbruder aus dem Klausurbereich und begrüßt mich herzlich. Wahrscheinlich ist er derjenige, zu dessen Aufgaben es gehört, Pilger zu empfangen. Er setzt sich an einen Tisch, notiert fein säuberlich in ein Buch meinen Namen, lädt mich für 18 Uhr in die Basilika zur Messe, um 19 Uhr zum Abendessen und für 8 Uhr morgen früh zum Frühstück ein, was ich in keinem der Fälle ablehnen kann. Nachdem ich ihm versprochen habe, zu allen Anlässen pünktlich zu erscheinen, geleitet er mich zu meinem Zimmer.

   Tatsächlich bin ich zu allen verabredeten Terminen mehr als pünktlich. Die Messe in der beeindruckenden Klosterbasilika berührt mich mit der gesungenen Liturgie durch den versammelten Mönchschor einmal mehr, auch wenn ich sprachlich nichts verstehe. Aber ich glaube, das Verstehen der Sprache ist dabei nicht notwendig. Nach der Messe empfängt mich der Klosterbruder, der mich für die Nacht aufgenommen hat, mit einem Lächeln an der Rezeption, nimmt mich mit in den Speisesaal der Brüder, die sich auch gerade alle zu Tisch begeben und stellt mich dem Abt des Klosters vor. Dieser bittet mich, ihm gegenüber Platz zu nehmen, gießt mir Rotwein in ein Glas und reicht mir die Suppenschüssel. Das ganze Essen über unterhalten wir uns sehr angeregt, über meine Erfahrungen bisher mit dem Weg und mit meinem Wheelie, über seine eigene Pilgerreise auf der Via Francigena vom Kloster bis nach Rom und vom Kloster bis nach Canterbury, immer über ein bis zwei Wochen im Jahr, über das Gymnasium und das Internat, das dem Kloster angegliedert ist, über den sehr alten Bruder, der neben mir sitzt und 50 (!) Jahre lang im Auftrag des Klosters in Indien eine Schule geleitet hat und vor 15 Jahren zurückgekommen ist. Besonders beschäftigt ihn im Moment das bevorstehende Jubiläum. 515 wurde das Kloster vom Burgunderkönig Sigismund gegründet und begeht damit als ältestes Kloster Europas nächstes Jahr sage und schreibe das 1.500jährige Jubiläum. Papst Franziskus ist eingeladen.

   Nach einem üppigen und leckeren Abendessen mit einer köstlichen Birne Helene zum Nachtisch, verabschieden wir uns voneinander. Da die Klostergemeinschaft wesentlich früher als ich frühstücken wird, wünscht er mir noch einen guten Weg bei bester Gesundheit und eine erfolgreiche Ankunft in Rom.

   Wenn mir früher einer gesagt hätte, dass ich mal mit einem Abt abendesse...

 

Zur Karte: https://drive.google.com/file/d/0B-YJDxFXEbWmTWdsSk5Ib2lqd2M/

 

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 3
  • #1

    Die Pilgertochter (Donnerstag, 08 Mai 2014 06:50)

    Cool! Bestimmt ein unvergesslicher Abend. Ich bin ja ein bisschen neidisch, weil ich mir sowas immer mal für den Jakobsweg gewünscht hab. Aber welcher Abt will schon mit einem Köter frühstücken?!?

  • #2

    Der Kronprinz (Donnerstag, 08 Mai 2014 17:50)

    Ich mach mir da auch keine Sorgen. Du schaffst das alles!!!

  • #3

    Bella (Samstag, 10 Mai 2014 22:22)

    Liebe Pilgertochter,(Annika)
    du hadt einen tollen Hund aber keinen Köter....
    gruss


Translation: