Einträge im Pilgerbuch

Burolo - Cavaglià (18 km)

   Wofür sind Fliegen eigentlich gut? Spontan fällt mir dazu ein: Vögel oder Frösche wollen auch was zu fressen haben. Aber haben sie sonst noch eine Daseinsberechtigung? Ich bin ein Tierfreund, aber bei Mücken und Fliegen komme ich an meine Grenzen. Was ist das denn auch für eine Unsitte, den schlafenden Menschen bzw. denjenigen, der versucht einzuschlafen, mit einer konsequenten Hartnäckigkeit daran zu hindern? Ich scheuche sie doch auch nicht auf, wenn sie irgendwo die Wand rauflaufen. Aber diese Biester scheinen eine Freude daran zu haben, den letzten Flecken nackter Haut, der nicht von der Bettdecke bedeckt ist, aufzuspüren und darauf rumzukrabbeln. Oder in regelmäßigen Abständen im Tiefflug und mit Gebrumm am Ohr vorbeizufliegen. Mit diesen Attacken schaffen sie es jedesmal, mich am Schlafen zu hindern. Und wenn ich mich dann auf die Jagd nach ihnen mache, höre ich sie förmlich kichern, wenn sie mich durch den Raum stolpern sehen. So war es gestern Abend und heute früh, als der Morgen graute. Ach, vielleicht stammt ja daher der schöne Begriff “Morgengrauen“!?

   Nach meinem einfachen Frühstück aus eigenen Beständen begebe ich mich trotzdem gut gelaunt auf meine vorläufig letzte Etappe mit gewissen Höhenunterschieden, ab morgen sind ja erstmal Flachlandetappen angesagt. Die Sonne lacht mal wieder vom blauen Himmel (seit wann eigentlich jetzt schon wieder?), und die Temperaturen liegen bereits zu Beginn meines Wandertages bei über 20°C. Aber ich halte es gut aus, selbst wenn im Laufe des Tages nochmals 5°C hinzukommen. Die klare Luft und ein leichter Wind halten für mich die Temperaturen in einem sehr gut verträglichen Bereich. So kann es meinetwegen bleiben. Außerdem kommen heute nochmal die kleinen Waldabschnitte hinzu, die kühlenden Schatten bringen.

   Hinter Bolengo geht es mal für zehn Minuten aufwärts, dann aber auf kleinen Straßen wunderbar aussichtsreich weiter. Bis Ivrea zurück geht der Blick und dann sehe ich, wie der Alpenbogen mit seinen zahlreichen schneebedeckten Gipfeln Richtung Westen schwenkt. Irgendwo dort, wo der letzte Berg in weiter Ferne so gerade noch zu erkennen ist, kann auch das Mittelmeer gar nicht so weit sein. Ich sehe über weite Felder mit verstreut liegenden Höfen und nur kurz hinter ihnen erhebt sich der grüne Höhenzug der Gletscher-Endmoräne. Die Poebene ist schon fast zu erahnen.

   In Palazzo Canavese laufe ich direkt auf den separat stehenden Torturm der Kirche zu. Diese Kirchturmvariante sehe ich heute nicht zum erstenmal. Türme, die im Mittelalter die Wach- und Stadttore bildeten, bekamen später, als in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft kleine Kirchen errichtet wurden, ein Stockwerk mit Glocken und großer Uhr draufgesetzt und fertig war der Kirchturm. Hier in Palazzo Canavese gibt es neben dem Turm noch mit der Quelle “Palatium Aqua“ eine bemerkenswerte Besonderheit. Für 5 Cent kann man sich an der Wasserstation einen Liter von dem herrlich kühlen Nass abfüllen. Mein Problem: Ich habe aber nur eine 0,75l-Flasche, also würde ja Wasser für ungefähr 2 Cent danebenlaufen. Also sooo dicke hab' ich es auch nicht, deshalb schenke ich mir den Wassereinkauf und fülle meine Flasche weiterhin an den immer wieder auftauchenden Brunnen.

   In Piverone kommt bald der markante Torre Campanaria, das alte Stadttor, ins Blickfeld. Er hat es nicht zum Kirchturm gebracht, steht aber trotzdem schon seit dem 13. Jahrhundert unverrückbar an seinem Platz. Früher hatte er mal zwei Bögen, durch die man in den Ort hereinkam: einen breiteren für die Fuhrwerke und einen schmaleren für die Fußgänger. Heute gibt es nur noch den größeren Durchgang. Wieviele Menschen mögen schon hier durchgegangen sein, Bewohner, Händler, Pilger. Manchmal möchte ich mich für ein paar Stunden ins Mittelalter beamen können, um dem Treiben an solchen markanten Punkten eines Ortes mal zusehen zu können. Wie war das Tor bewacht, wer wurde eingelassen, wer zurückgewiesen? Saß dort, wo jetzt das Verkehrsschild steht, ein Bettler und hat nach einem Almosen gefragt? Hat der Pilger bereitwillig Auskunft bekommen, wenn er nach der Herberge fragte?

   Hinter Piverone sehe ich bald die weite Wasserfläche des Lago di Viverone unter mir liegen, dahinter die bewaldeten Hügel der Moränenlandschaft. Zwischen mir und dem See liegen die letzten Weinberge, ich sehe Palmen und pittoreske Anwesen, auf dem See sind vereinzelt kleine Segelboote unterwegs - ein schönes Bild. Ich möchte eine Rast machen, aber nicht hier an der Straße, auch wenn es praktisch keinen Verkehr gibt.

   Die Gelegenheit ergibt sich aber wenig später. Bei den Überresten der kleinen romanischen Kapelle Gesiun ist dafür ein stimmungsvoller Platz. Mitten in den Weinhängen steht sie da, aus Feldsteinen und Ziegeln im 11. Jahrhundert gebaut, Freskenreste aus lang vergangener Zeit sind in der kleinen Apsis noch zu erkennen. Ich stelle meinen Wheelie in den Schatten eines niedrigen Baumes und setze mich vor die Kapelle ins Gras. Mein Blick geht hinunter zum Lago di Piverone und ich genieße für eine halbe Stunde die Ruhe dieses Ortes. Meine Rast morgen wird wohl ganz anders aussehen. Vielleicht irgendwo zwischen den ersten Reisfeldern der Poebene, mit fröhlichen Mücken um mich herumtanzend. Ich bin jetzt schon gespannt.

   Piemont gehört wohl zu den wohlhabenderen Gegenden Italiens. Jedenfalls kann man heute die meisten menschlichen Behausungen entlang der Via Francigena nicht unbedingt nur als “Häuser“ bezeichnen. Wenn man nett sein will, sagt man vielleicht “Villen“ dazu, “Protzbauten“ würde aber auch passen. Umgeben von großen, wohl gepflegten Gartenanlagen, von der Außenwelt abgeschottet durch übermannshohe Zäune und Hecken und schwere eiserne Toranlagen. Zu öffnen sind diese nur per Knopfdruck von drinnen durch die Eigentümer selbst, mal eben Klinkedrücken und Eintreten ist nicht. Hier wacht die unscheinbar angebrachte Kamera über das eigene Besitztum, Hunde trifft man dort nicht. Die lauern aber bei den meisten anderen, “normalen“ Häusern. Das erstemal auf meinem Weg fühle ich mich heute etwas an den Jakobsweg im Süden Frankreichs oder in Spanien erinnert. Ich habe das Dorf noch nicht erreicht, beginnt bereits die “Meldekette“ der Dorfhunde. Es wird geknurrt und gebellt auf Teufel-komm-raus, und kaum bin ich an dem einen Wächter des Hauses vorbei, kommt der nächste an den Zaun geflogen. Solange aber die Zäune dicht und die Tore geschlossen sind, kann ich heldenmutig an ihnen vorüberziehen.

   Hinter Roppolo spaziere ich, wohl vorerst für ein letztes mal, durch einen kleinen Wald und bin dann in Cavaglià, meinem “Tor zur Poebene“. An der wuchtigen Kirche San Michele Arcangelo vorbei komme ich zum Rathaus, und da meine hiesige Unterkunft die gemeindliche Pilgerherberge ist, muss ich hier nach dem Schlüssel dafür fragen. Die Dame auf dem Amt verweist mich an eine Kollegin 100 m weiter, die so etwas ähnliches wie ein Seniorenzentrum leitet, und die nimmt mich auch mit strahlenden Augen in Empfang. Sie lässt alle andere Arbeit stehen und liegen und bringt mich um die Hausecke herum zu einer Tür, die zunächst mal nichts Gutes vermuten lässt. Als sie aber die Tür öffnet, offenbart sich dahinter ein typischer Pilgerherbergen-Raum. Sechs Betten stehen nebeneinander, mit bunten Bezügen ansprechend bezogen, ein Tisch mit Stühlen in der Mitte, darauf liegt das Pilgerbuch. Auf einem kleinen Schrank an der Wand stehen ein Heißwasserkocher und Dosen mit Instantkaffee und Teepackungen zum freien Gebrauch. Alles ist sauber und gepflegt, auch die Sanitäranlage eine Tür weiter. Ich bin mehr als zufrieden. Und meine Zufriedenheit steigt, weil ich doch weiß, dass ich heute Nacht das zweitemal eine kostenlose Übernachtung hintereinander haben könnte. Die kleine Box aber auf dem Tisch bittet um eine kleine Spende.

   Nach der Dusche und bei einer Tasse Kaffee blättere ich entspannt und in aller Ruhe ein wenig in dem dicken Pilgerbuch herum. Hier habe ich mich bisher zurückgehalten, habe dort noch keine Spuren hinterlassen und auch nichts darin gelesen. Jetzt habe ich Zeit und kann mal lesen, was Pilger der Via Francigena da so hineinschreiben. Vieles davon ist schon sehr persönlich. Mir wird bewusst, dass viele meiner Weggefährten nicht einfach so zum Pilgerweg nach Rom aufgebrochen sind. Hier stehen die Motive, die einen Menschen bis hierher gebracht haben. Burnout: Viele sagen von sich, völlig ausgebrannt zu sein. Viel ist zu lesen von Problemen und von der Suche nach Gott oder sich selbst. Und sehr viele beschreiben hier Symptome, die zielgenau zu einer Depression passen. Sehr betroffen macht mich zu lesen, dass es für andere vielleicht der letzte Weg war. Die letzten Tage, die ihnen nach einer schrecklichen Diagnose noch bleiben. Doch sie haben sich gegen eine Chemo entschieden und möchten ein letztes Mal in ihrem Leben frei sein. Wenn ich das alles lese, bin ich dankbar dafür, wie gut es mir doch geht, wie unbeschwert ich diesen Weg gehen und genießen kann.

 

Zur Karte: https://drive.google.com/file/d/0B-YJDxFXEbWmYkVWUjVocms4Mk0/

 

 

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Kommentare: 2
  • #1

    inge.geisler (Samstag, 17 Mai 2014 12:23)

    Für 2 cent hätte ich mir die 0,25 ltr. Wasser direkt in den Mund laufen lassen.

  • #2

    Der Kronprinz (Montag, 19 Mai 2014 20:49)

    Da solltest du auch froh sein. Und wir sind es auch...


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