Radpilger sind auch Pilger

Robbio - Mortara (17 km)

   In der Nacht ist die Kirchturmglocke mein treuer Begleiter. Jede halbe Stunde macht sie mir deutlich klar, dass wieder ein Stück Lebenszeit zerronnen ist. Komischerweise regt mich das nicht sonderlich auf. Jedesmal, wenn mich die Glocke weckt, schlafe ich unmittelbar danach wieder fest ein. So arbeite ich mich durch die Nacht. Wenn man aber die kurze Aufschreckphase beim Glockenschlag unberücksichtigt lässt, kommt doch eine ganze Menge Schlaf zusammen. Ich fühle mich wirklich ausgeruht, als ich um 7 Uhr aufstehe.

   Beim Frühstück bin ich nicht alleine. Eine kleine Eidechse muss ihren Weg bis ins erste Stockwerk und unter der Eingangstür hindurch geschafft haben und flitzt zwischen meinen Füßen herum. Sie kümmert sich hingebungsvoll um die Krümel, die mir beim Schneiden des recht trockenen Weißbrotes auf den Boden fallen. Ob sie heute Nacht an meinem Fußende geschlafen hat? Und wenn schon, lieber mit einer kleinen Eidechse das Zimmer teilen als mit lästigen Fliegen oder blutsaugenden Mücken.

   Als ich vom Hof des Rathauses durch die große Toreinfahrt auf die Straße trete, ist dort Markt. Es ist immerhin erst 8.30 Uhr und das Markttreiben bereits in vollem Gange. Nicht nur vor dem Rathaus haben die Händler ihre Waren aufgebaut, die ganze Straße und verschiedene Nebengassen sind mit Ständen belegt und die Kunden drängeln sich. Meistens sind es Textil- und Haushaltswaren , die angeboten werden, ab und zu Blumen, selten mal Lebensmittel, wie Käse oder Obst. Ein wenig erinnert mich das alles an den Marktbereich der Eitorfer Kirmes, nur als Marktschreier sind die Verkäufer hier besser drauf. Mit Mühe schlängel ich mich durch das Marktgewühl und erst als ich an dem schönen romanischen Backsteinkirchlein San Pietro vorbei bin, das früher bereits außerhalb der Stadt lag und schon so manchen Pilger hat an sich vorüberziehen sehen, wird es ruhiger.

   Ein älterer, kaum 1,50 m großer Mann im neonroten Arbeitsanzug der städtischen Gartenkolonne eilt mir gestikulierend aus dem kleinen Park an der Kirche entgegen und ich meine, seinen Lauten zu entnehmen, dass er mich fragt, ob ich auf der Via Francigena unterwegs sei. Als ich ihm dies bestätige, beginnt er eine ausschweifende Erklärung zum Streckenverlauf und die feuchtgelbe Zigarette, die er im Mundwinkel hat, hüpft dabei fröhlich auf und ab. Innerlich glucksend folge ich nur anscheinend interessiert seinen Ausführungen, fühle ich mich doch eigentlich bei der Wegbeschreibung in meinem Wanderführer und der guten Markierung ganz gut aufgehoben. Als der Vortrag beendet ist, bedanke ich mich nahezu überschwänglich bei dem kleinen Mann und mache damit einen Menschen offensichtlich glücklich. Er drückt mir kräftig die Hand zum Abschied, klopft mir auf die Schulter und geht dann wieder zu seinem Wasserschlauch, mit dem er im Park die Blumen gießt.

   Bald kommen wieder die Reisfelder, Kanäle, viel Mais, große Cascinas, bullige Traktoren bei der Arbeit. Der Himmel ist vollkommen bedeckt, aber nach Regen sieht es nicht aus. Mit mir selbst zufrieden setze ich einen Schritt vor den anderen und habe diese Landschaft immer noch nicht satt. Der Weg bringt den Geist in Bewegung: Ich sehe die Natur und erlebe auf vielfältige Weise, wie hier bei diesen endlosen Feldern, was der Mensch damit gemacht hat und weiter macht. Ich sehe Gebäude, Kirchen, Kunstwerke, geschaffen von menschlicher Hand, und lese Botschaften früherer Generationen aus dem behauenen Stein.

   Ich merke jeden Tag auf's Neue, dass Gehen gesund ist. Das stimmt auch, wenn einmal ein paar Blasen (glücklicherweise bei mir noch nicht) oder ein Muskelkater (manchmal) auftreten. Das einfache Leben hat auf mich eine heilsame Wirkung. Gehen, für Nahrung sorgen, eine Unterkunft finden, schlafen, die geschenkte Zeit auskosten, merken, mit wie wenig ich auskommen kann, um mir dann wieder etwas zu gönnen. Wer gehen und sich gehen lassen kann, dem geht es gut.

   In Nicorvo habe ich ich fast schon wieder die Hälfte der Strecke für heute geschafft. Mein Wanderführer verspricht für die dortige Kirche ein stimmungsvolles Inneres und da die Reisfelder nur selten stimmungsvolle Rastplätze versprechen, kann ich mich hier direkt auch etwas ausruhen. Es ist tatsächlich so, manche Kirchen sprechen mich sofort an, wenn ich zur Tür hereinkomme, bei manchen ist es nicht so. Hier fühle ich mich bei meiner Rast wohl, kann gut einfach nur hier sitzen, um mich schauen, in mich gehen. Die Kirchenbänke haben Schilder mit Namen von Nicorveser Familien, wahrscheinlich noch aus einer Zeit, als die angesehenen Familien des Ortes noch ihre eigenen Bänke für sich in der Kirche beanspruchten. An der Wand sehe ich auf einer gelb-blauen Fliese die Zeichen der beiden großen Pilgerwege vereint: die Himmelsschlüssel von Petrus in Richtung Rom und die Muschel in Richtung Santiago. Außerdem liegen ein Pilgerbuch aus und ein Stempel. Etwa 20 Minuten gönne ich mir die Ruhe in diesem Kirchenraum, dann ziehe ich weiter.

   Irgendwo inmitten der Reisfelder zwischen Nicorvo und Mortara passe ich dann mal nicht richtig auf. Als ich merke, dass ich schon ungewöhnlich lange keine Markierung mehr gesehen habe, ist es auch schon zu spät. Ein Zurückgehen und Suchen kommt für mich nicht in Frage, zumal ich die Straße nicht weit neben mir und die ersten Häuser von Mortara bereits vor mir sehe. Glücklicherweise liegt zwischen mir und der Straße kein Kanal und ich erreiche sie schnell. Dann aber heißt es für ungefähr eine Dreiviertelstunde, schnurgerade an ihr entlangzumarschieren. Der Vorteil: kein Schotterweg, der Wheelie rollt, kein Traktor paniert mich und Mücken scheint es hier nicht zu geben. Der Nachteil: Ich gehe bereits seit einer Viertelstunde und habe das Gefühl, noch keinen Meter vorangekommen zu sein, und der Sog der vorbeirasenden LKW zieht mich fast auf den Mittelstreifen. Doch irgendwann ist auch das geschafft und ich durchstreife mit brennenden Sohlen das Zentrum von Montara auf der Suche nach der Via Francigena.

   Kurz vor dem Rathaus treffe ich wieder auf sie - und auf einen Dönerladen. OK, es ist jetzt nicht sehr stilvoll, im Herzen des italienischen Reisanbaus türkischen Kebap zu essen, aber ich habe jetzt und sofort Hunger und außerdem überzeugt mich das Preis-Leistungsverhältnis. Ich lege also, noch kurz vor meinem Tagesziel, einen Boxenstopp ein und bekleckere mein T-Shirt - wie immer - mit Soße, Fleisch und Salat. Satt und versaut mache ich mich dann auf die letzten paar hundert Meter bis zum außerhalb der Stadt liegenden einstigen Kloster Sant'Albino.

   Der Legende nach wurde es bereits im 5. Jahrhundert gegründet, unter Karl dem Großen im Jahre 773 erneuert, dann nochmals im 11. Jahrhundert. Heute ist es eigentlich nur noch Anlaufstelle und Übernachtungsort für Pilger.

   Als ich um kurz nach 13 Uhr an der Pforte klingel, wird mir sofort geöffnet, allerdings nur, um mir mitzuteilen, dass Pilger erst ab 15 Uhr aufgenommen werden. Ich könne gerne dahinten auf der Bank so lange warten. Das begeistert mich natürlich gar nicht, aber ich habe keine andere Chance. Nach zehn Minuten - ich will mich gerade auf der Bank für ein Nickerchen niederlassen - öffnet sich die Tür nochmal. Eine Frau kommt heraus, winkt mir zu und bedeutet mir reinzukommen. So lange könne sie keinen Pilger vor der Tür warten lassen. Recht hat sie! Sie bringt mir eine große Flasche Wasser und einen Apfel, fragt, ob ich heute Abend mit essen möchte, klappt in dem großen Raum eines der bereitstehenden Betten auf und zeigt mir Dusche und WC. Vor allem solle ich mich jetzt aber erstmal ausruhen. Wieder hat sie recht! Ich dusche, mache eine Stunde Augenpflege, bereite mir anschließend einen Kaffee und setze mich damit nach draußen in die Sonne.

   Tatsächlich, die Sonne scheint wieder! Während ich die Matratze ausprobiert habe, sind die Wolken verschwunden und haben der Sonne wieder Platz gemacht. Im Schatten des Turmes der alten Abtei lässt es sich gut aushalten und ich beginne meinen Blog. Währenddessen versucht die gute Fee des Hauses meine nächsten beiden Quartiere zu reservieren, was ihr auch problemlos gelingt. Tutto paletti!

   Während ich meine zweite Tasse Kaffee beim Schreiben trinke, kommen doch tatsächlich - täteretäää! - zwei weitere Pilger an. Leonardo und Enrico, zwei Brüder in meinem Alter, sind vor zwei Jahren mit ihren Fahrrädern in Canterbury gestartet und hoffen, in etwas mehr als einer Woche in Rom zu sein.

   Kurz vor dem Abendessen kommt der örtliche Pfarrer vorbei und stempelt unsere Pilgerausweise, eine Tradition seit Jahren. Bevor er wieder geht, wünscht er uns noch einen guten Appetit beim Essen. Es gibt Risotto, Schnitzel und Salat und natürlich eine Flasche Rotwein, wohlgemerkt, alles auf Spendenbasis. Leonardo und Enrico haben mittlerweile ihre beiden Klappbetten neben meinem aufgebaut. Alles erinnert mich im Moment schwer an eine Albergue auf dem spanischen Jakobsweg. Enrico schnarcht bereits.

 

Zur Karte: https://drive.google.com/file/d/0B-YJDxFXEbWmRmtHQzZrYVJRT1k/

 

 

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Kommentare: 2
  • #1

    Die Pilgertochter (Mittwoch, 21 Mai 2014 06:51)

    Ha! Endlich Pilger! Dann ist mein Wunsch für dich ja tatsächlich in Erfüllung gegangen!

  • #2

    Der Kronprinz (Freitag, 23 Mai 2014 16:40)

    Beeindruckend dass du immer noch nicht übergeschnappt bist...


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