Ein Küsschen in Ehren

Pavia - Santa Cristina (29 km)

   Gestern Abend habe ich doch noch einen Zimmergenossen bekommen. Ein etwas eigenartiger Vogel. Kam mit Koffertrolli und verspiegelter Sonnenbrille reinstolziert, warf sich nach kurzem Gruß auf sein Bett und ließ den Trolli mitten im Weg stehen. Sein Handy meldete sich innerhalb einer Stunde mindestens achtmal, jedesmal war dieselbe Frauenstimme dran. Immer wieder schäkerte er kräftig wenige Minuten lang, bevor er sich dann, für mich ziemlich unvermittelt, wieder mit einem “Ciao, Ciao!“ verabschiedete. In die Kategorie “Mitpilger“ fiel er jedenfalls nicht.

   Der Schäkerer schläft noch, als ich mich um 8 Uhr wieder auf den Weg mache. Der Morgen riecht nach dem Regen, der heute Nacht noch nach dem Gewitter von gestern Nachmittag gefallen ist. Doch der Himmel ist schon wieder blau, klarer vor allem als am gestrigen Morgen. Auf den Straßen von Pavia herrscht der übliche Berufsverkehr. Anlieferer fahren in die Fußgängerzone und in die kleinen Gassen, überdurchschnittlich viele Menschen sind relativ lustlos mit ihren Hunden unterwegs, auffällig viele Väter und Großväter bringen ihre Kinder bzw. Enkelkinder zur Schule und die Müllabfuhr macht in den Straßen einen ordentlichen Lärm.

   An dieser Stelle einen Satz zum Müll: Die Sauberkeit in den Innenstädten entlang der Via Francigena ist meiner Meinung nach in Ordnung. Über den Dreck und Müll unterwegs bin ich zeitweise entsetzt. Entlang viel befahrener Straßen ist es ganz schlimm. Hier landet wohl jede Plastikflasche, die während der Fahrt geleert wird, im Straßengraben. In den Kanälen schwimmen bald genausoviele herum und an manchen Wehren sammeln sie sich geradezu zu einem großen Teppich. Das ist zumindest - abstoßend! Hier empfehle ich mal eine groß angelegte Aktion, die diesen Missstand in Ordnung bringt. Was bei uns unter dem Motto “Wir machen sauber“ oder “Frühlingsputz“ ganz gut funktioniert, müsste hier doch auch klappen.

   Noch während ich die letzten Straßen von Pavia ablaufe, gewinnt die Sonne richtig an Kraft, und als ich ins Grüne komme, dampft das Gras nahezu. Ich bin schon schweißgebadet, da habe ich die Stadtgrenze von Pavia gerade hinter mich gebracht. Ich hoffe sehr, dass es während der nächsten zwei Stunden keine Wiesenwege gibt, sonst ist die Hose wieder bis zum Gürtel nass.

   An einem Laternenmast entdecke ich einen Aufkleber: “Rom - 685 km“ Das nimmt ja so langsam überschaubare Ausmaße an. Der Countdown läuft! Ziemlich genau Zweidrittel müsste ich damit geschafft haben, und es gab in den vergangenen Wochen nicht eine Sekunde, in der ich dachte, überfordert zu sein, in der mich eine Landschaft langweilte oder ich auch nur in Erwägung zog aufzuhören. Jeder Tag ist eine Bereicherung und ich will keinen missen.

   Immer wieder wurde mir in den letzten Wochen bewusst, was für mich dieses Unterwegssein wirklich heißt: Weitergehen, auch bei Regen und Hitze; Ausdauer, auch bei Müdigkeit; Durchhalten, auch wenn der Weg mühsam ist, und dies nicht nur an einzelnen Tagen, sondern Woche für Woche. Das fast spielerische Weiterziehen ist längst der Anspannung gewichen, die das Zurechtfinden an fremden Orten mit sich bringt. Manchmal denke ich an die Leute, die mich vor Beginn meiner Reise mit Ratschlägen versorgt hatten. Auf dem Pilgerweg würde ich mich selbst finden, hatten mir einige angekündigt. Weit gefehlt, finde ich jetzt, viel wichtiger ist mir, dass ich am Abend eine Unterkunft und am Tag genügend Wasser und Lebensmittel finde. Von der “Konzentration aufs Innere“ hatten mir andere, obwohl selbst noch nie auf einem Pilgerweg, vorgeschwärmt. Wie das, wenn die Füße brennen, die Sonne sticht und sich mir beim nächsten Bauernhof schon wieder ein kläffender Hund in den Weg stellt? Ich denke, ich komme mit meinen Erfahrungen sehr nah an das heran, was Pilgern früher war und eigentlich immer noch ist. Pilgern ist die Erfahrung von Fremdsein, fast von Ausgesetztsein, vom Bestehen der täglichen Schwierigkeiten. Das ist etwas anderes als die Romantik, mit welcher der Begriff heute so oft umkleidet wird. Pilgern ist immer noch Auseinandersetzung mit der Welt und mit dem Leben.

   Pilgern heißt aber auch Spaß und Freude unterwegs. Als ich zum Beispiel hinter Pavia durchs erste Dorf San Leonardo gehe, wo nur 500 m südlich der Ticino in den Po mündet, kommen mir auf der langgezogenen Straße sechs alte Frauen auf ihren Fahrrädern entgegen. Als sie fast auf meiner Höhe sind, kommt aus ihrer Mitte eine laute Bemerkung, bei der ich sofort sicher bin, dass sie irgendwie mit mir und/oder meinem Wheelie zu tun hat. Sofort fängt die ganze Truppe an, schallend zu lachen und hat größte Mühe, sich auf dem Rad zu halten. Einer von ihnen gelingt das leider nicht und sie fällt mit einem hellen Quieker auf den Asphalt. Hier lacht sie weiter, und als sich bei den anderen der erste Schreck über den Sturz der Freundin gelegt hat, lachen sie alle miteinander umso lauter. Gerne möchte ich jetzt natürlich wissen, worüber sie sich so amüsieren, aber wenn sie versuchen würden, es mir zu erklären, täte sich bei mir sowieso nur wieder ein großes Fragezeichen auf. Daher klicke ich lieber schnell meinen Wheelie ab und helfe der alten Dame, sich wieder hochzurappeln. Daraufhin bekomme ich von ihr einen dicken Kuss auf die Wange, wieder hebt ein großes Gelächter an, nur diesmal noch lauter, und ein frenetischer Applaus ergießt sich über uns. Ich werfe Handküsse in die Menge, klicke meinen Wheelie wieder an und unter dem Konzert von sechs Fahrradklingeln ziehe ich weiter.

   Mit Sicherheit hat das Thermometer mittlerweile die 30°C überschritten. Ich schwitze zwar ordentlich, halte es aber ganz gut aus. Nur eine Rast hätte ich jetzt nach zweieinhalb Stunden trotzdem gerne. Den Originalweg habe ich gerade mal verlassen und gehe nicht über San Giacomo, dieser Umweg entzieht sich wieder mal meinem Verständnis... obwohl... eigentlich auch wieder nicht. In diesem kleinen Ort gibt es die Kirche San Giacomo della Carreta, und für die Pilger, die in entgegengesetzter Richtung auf dem Weg nach Santiago de Compostela sind, wäre das natürlich eine Anlaufstelle. Bin ich aber nicht, sondern auf dem Weg nach Rom, und deshalb habe ich jetzt mal Mut zur Lücke. Auf der anderen Seite wäre die Kirche vielleicht ein schöner Platz zum Rasten gewesen. Eine Bank zum Sitzen und Schatten hätte es dort allemal gegeben. Doch wiedermal kommt nun eine dieser Situationen, die mich manchmal nachdenklich machen. Mitten auf diesem eigentlich schattenlosen Weg, auf dem ich mich jetzt befinde, mit nichts anderem um mich herum als Mais- und Getreidefeldern, komme ich auf einmal zu einem recht großen Bildstock, neben den ich mich in seinem Schatten auf den Boden setzen kann. Ein leichter Wind wirbelt etwas um ihn herum und es ist einfach schön, hier zu sitzen. Eine volle halbe Stunde lang bleibe ich da und gehe dann ausgeruht weiter.

   Schon seit einiger Zeit fällt mir auf, dass ich kaum noch Reisfelder sehe. An einem Haus in Santa Margherita meine ich des Rätsels Lösung zu finden. An einer Hauswand finde ich auf Bauchnabelhöhe die Markierungen von extremen Hochwasserständen des Po in den letzten 60 Jahren, den letzten vom 16.10.2000. Danach stand das Wasser hier über einen Meter hoch in den Straßen, obwohl der Po gut drei Kilometer entfernt ist. In solch einem Fall wären alle Reisfelder und das gesamte Bewässerungssystem zerstört. Bei den Mais- und Getreidefeldern wäre das Ausmaß der Zerstörung nicht ganz so dramatisch. Mit dem Bau von immer wieder neuen und höheren Dämmen versucht man entgegenzuwirken, aber wer weiß, welche Überraschungen die Auswirkung der anhaltenden Klimaerwärmung noch für uns bereithält.

   Zum erstenmal sehe ich im Westen die Berge des Apennin am Horizont auftauchen, auf die ich nun jeden Tag ein Stück weiter schräg zulaufen werde. In fünf Tagen sind die Flachlandetappen der Poebene vorbei und es heißt wieder Aufstieg - Abstieg -Aufstieg - Abstieg. Dann ändert sich das Bild total und ich werde wieder vor andere Anforderungen, aber auch vor andere Ausblicke gestellt. Wenn die Temperaturen noch dazu weiter ansteigen, kommt zusätzliche Freude auf.

   Die letzten Kilometer vor Santa Cristina zermürben etwas. Den Kirchturm schon seit einiger Zeit vor Augen, schlängelt sich der Weg aufreizend lange durch die Felder und ich habe das Gefühl, überhaupt nicht näherzukommen. Irgendwann habe ich es dann aber doch geschafft und stehe schwitzend vor dem Pfarrhaus. Auf mein Klingeln hin erscheint Don Antonio am Fenster und macht mir deutlich, dass ich ums Haus herumgehen soll. Ich tue es und treffe ihn an der Tür eines Hinterhauses, welches wohl das Gemeindehaus ist. Drinnen sitzen alte Männer beim Kartenspiel, draußen spielen Jungen Fußball. Don Antonio zeigt mir alles, was ich wissen muss, bezahlen muss ich mal wieder nichts. Wo ich ihn gerade mal greifbar habe, bitte ich ihn auch gleich, zwei Telefonate für mich zu führen: an Danilo Parisi, den Fährmann über den Po, und an meine morgige Unterkunft in Calendasco.

   Wie selbstverständlich kommt er dieser Bitte nach. Als er fertig ist, erfahre ich: Danilo Parisi erwartet mich morgen um 13.30 Uhr bei seinem Anleger am Ufer des Po und in der Unterkunft in Calendasco ist am morgigen Samstag ein Fest mit Tanz. Als ich kurz auflache und mir für einen kurzen Moment die Stirn halte, schaut er mich etwas irritiert an. Er weiß ja nicht, was das für mich vielleicht wieder bedeutet.

 

Zur Karte: https://drive.google.com/file/d/0B-YJDxFXEbWmQ0dwdmlraEk2WFU/

 

 

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Kommentare: 2
  • #1

    Monika Stiemert (Samstag, 24 Mai 2014 01:15)

    Hallo, Herr Wagner!
    Sechs alte lachende Frauen auf Fahrrädern - und Sie bekommen einen Wangenkuss und reagieren charmant mit "Handküssen in die Menge". - Ich stelle mir das bildlich vor und schmunzle. Das ist typisch Italia mit seiner spontanen Fröhlichkeit vor allem auf dem Land. Bei uns in Deutschland wäre das so ziemlich undenkbar!
    Liebe Grüße und weiterhin schöne Erlebnisse und tolle Berichte. Ich freue mich täglich darauf!
    Monika

  • #2

    Der Kronprinz (Montag, 26 Mai 2014 14:09)

    Wahnsinn! "Nur" noch 685km!!!


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