Wieder in die Berge

Fidenza - Medesano (23 km)

   Als ich gestern Abend im Bett lag, muss sich, direkt unter meinem Zimmerfenster, eine Nachtigall auf einem Baum im Klostergarten niedergelassen haben. Sie sang so voller Inbrunst, mal fröhlich, mal sehnsüchtig, dass ich vollkommen fasziniert war. Nichts hörte ich sonst, es war absolute Stille, nur die Nachtigall sang. Ich weiß nicht, wann sie aufhörte, ich muss darüber eingeschlafen sein.

   Frühstück gibt es bei den Zisterziensern in Fidenza nicht, also müssen wieder ein Kanten Weißbrot und ein Stück Salami aus eigenen Beständen herhalten. Wie unterschiedlich das in Klöstern doch gehandhabt wird. Manchmal wird man zum gemeinsamen Essen eingeladen, mal bekommt man ein gutes Essen in einem gesonderten Raum hingestellt, mal bekommt man aber auch nur das Zimmer zugewiesen, fertig. Aber ich will mich wirklich nicht beklagen. Ich finde es schon toll, dass man als Pilger überhaupt Aufnahme findet, meist für wenig oder gar kein Geld. Eine gute Tradition!

   Kaum bin ich wieder ein paar hundert Meter unterwegs, als ein Auto neben mir hält, der Fahrer aussteigt und strahlend auf mich zukommt. Nachdem wir uns schnell sprachlich auf Englisch einigen können, will er alles von meiner Pilgerreise wissen. Nach den ersten Sätzen holt er eine große Thermoskanne und einen zusätzlichen Plastikbecher für mich aus seinem Auto und fragt, ob ich auch Kaffee haben möchte. Ich bekomme glänzende Augen. Da hat ein Italiener tatsächlich eine ganze Thermoskanne voll mit Kaffee dabei... und der schmeckt wie deutscher Kaffee... vielleicht ein wenig stärker... und er ist heiß - ich bin sprachlos. Zehn Meter vom Auto entfernt steht eine Bank am Straßenrand und wir beide machen es uns gemütlich. Er will viel wissen, ich erzähle ihm viel und es springt eine zweite Tasse Kaffee dabei raus. Nach einer halben Stunde etwa scharre ich dann doch mit den Hufen und will weiter. Schnell steht Alessandro auf und läuft zu seinem Auto. “I have a present for you“, ruft er mir zu, holt etwas aus seinem Kofferraum und kommt zurück mit einer bronzenen Medaille am Band. Darauf prangt der Kopf von Giuseppe Verdi. Er erzählt mir, dass er der Organisator des hier in Fidenza jährlich stattfindenden Verdi-Marathons ist und möchte mir hier dieses Exemplar einer Siegermedaille schenken. Schließlich mache ich ja auch einen Marathon und befände mich gerade in der Heimat von Verdi. Tatsächlich hatte ich gestern schon die Notiz in meinem Wanderführer gelesen, dass der berühmte Opern-Komponist in dem kleinen Nest Le Roncole bei Busseto (dessen Straßenschild mir gestern viele zusätzliche Kilometer eingebracht hat) 1813 geboren worden war. Händeschüttelnd verabschieden wir uns und Alessandro verspricht mir, irgendwann auch mal die Strecke von Fidenza nach Rom auf der Via Francigena zu pilgern. Vorher sollte er aber noch abnehmen, denn er hat die Figur eines Sumo-Ringers.

   Zehn Minuten nach dieser netten Begegnung bin ich aus Fidenza raus und im Grünen. Nicht nur im Grünen! Einen Kilometer später “besteige“ ich, nach 12 Tagen der Flachland-Etappen in der Poebene, bei Cabriolo wieder einen ersten Hügel. Der ist zwar nicht viel höher als 20 m, mit einer schönen kleinen romanischen Kirche oben drauf, und dann geht es sofort wieder runter, aber immerhin. Doch wenig später ist die Landschaft eine ganz andere. Hinter Castellazo geht es schon steiler hinauf und ich schwitze mal nicht nur wegen der Sonne, sondern auch wegen meines geforderten Kreislaufs. Wenn ich mich umdrehe, blicke ich zurück auf Fidenza, sehe im weiten Bogen bis zum Horizont nichts anderes als die Poebene. Auf den Hügeln und Hängen die verstreut stehenden Landhäuser, überall sind die Wiesen gemäht und die Rundballen liegen wie goldgelbe Flecken im Grün. Im Moment sind es noch nichts anderes als die auslaufenden Berghänge des Apennin, aber die sind auch schon schön.

   Die Osteria del Sole, außerhalb eines Dorfes, am Rand einer kleinen Landstraße und für eine Rast von mir vorgesehen, ist noch geschlossen. Ich setze mich trotzdem auf die Terrasse, ruhe mich eine Weile aus und beobachte dabei einen Bauern, der mit seinem Traktor einen Rundballen nach dem anderen von der Wiese holt und zu seinem nahegelegenen Hof karrt. Drinnen rumort es zwar schon in der Küche, aber bedient werde ich nicht. Auch nicht schlimm, schließlich habe ich noch meine eigene Wasserflasche. Nach dem fünften Ballen des Bauern ziehe ich weiter.

   Hinter Costa Mezzana geht es ordentlich den Hügel hoch, ich schnaufe und schwitze, die Umstellung kommt etwas schnell. Meine Wasserflasche am Bauchgurt leert sich zügiger als vorgesehen und aus meiner großen Flasche am Tagesrucksack nachzufüllen und damit meinen Gehrhythmus zu unterbrechen, bin ich (noch) zu faul. Als auch der letzte Schluck aus der Flasche getrunken ist, muss es vielleicht doch sein, zumal ich jetzt oben, auf der Spitze des Hügels, dort wo der Weg hinführt, ein strahlend blaues Haus sehe, das bei mir sofort kristallklares, kaltes Wasser assoziiert. Als ich mit heraushängender Zunge bei ihm ankomme und gerade meinen Rucksack abschnallen will, um an meine große Wasserflasche zu kommen, sehe ich vor dem Haus einen Wasserhahn. Ich drehe auf und ihm entströmt eiskaltes Wasser. Ich saufe wie ein Kamel und fülle meine Flaschen. Mit diesem Wasservorrat im Bauch kann ich unbeschwert, diesmal bergab, weitergehen.

   Unten im Tal liegt der kleine Ort Cella. Eine Bar soll es geben und egal, ob ich gerade “literweise“ Wasser getrunken habe oder nicht, ich will jetzt meinen Kaffee, vielleicht ein Eis oder ein Panino, oder beides. Wie freue ich mich, als ich das alles genau so vorfinde, dazu noch einen schönen Platz in einem gepolsterten Rattansessel draußen unter der Markise. Was will ich mehr?

   Nachdem ich alles auf meinem kleinen Glastisch vor mir aufgereiht habe und mit dem Eis anfange, kommt ein Mann die Straße entlang und nimmt Kurs auf die Bar. In seiner viel zu großen Hose sieht er aus wie Obelix nach acht Wochen Weight Watchers. Er holt sich ein Glas Rotwein aus der Bar, setzt sich an meinen Nachbartisch und spricht mich an. Sorry, aber er hat ein gewaltiges Augenproblem. Ich erinnere mich da an ein Gemälde von Picasso, so ähnlich sieht mein Sitznachbar aus. Als er seinen Redeschwall auf mich loslässt, tanzen diese Picasso-Augen vor asymetrischem Mutwillen und als er zwischendurch auf meinen Wheelie zeigt, verdreht er sie überflüssigerweise. Ich kann ihn kaum ansehen, geschweige denn, ihm eine Antwort geben. Irgendwann gibt er auf, widmet sich seinem Rotwein und einer Zigarre vom Format Kanonenrohr. Der Wind steht aber günstig, so dass ich mich bei dem Verzehr von Panino und Kaffee nicht gestört fühle.

   In die Pilgerherberge von San Pantaleone in Medesano komme ich genau zu dem Zeitpunkt, als der grauhaarige, großgewachsene Pfarrer gerade im Haus mit zwei Handwerkern spricht. Seine Haushälterin (oder was immer sie auch ist) steht dabei und gibt immer wieder Kommentare ab. Beide registrieren mein Erscheinen, winken mir kurz zu, lassen mich aber eine gute halbe Stunde auf dem Abstellgleis stehen. Ein wenig komme ich mir nach einiger Zeit vor wie ein vergessener Regenschirm.

   Zur Entschädigung für die lange Wartezeit bekomme ich einen Espresso spendiert. Und als Zugabe gibt es wieder nicht nur ein Zimmer für mich alleine, sondern direkt das ganze Haus. Wo sind die Pilger auf der Via Francigena?

 

Zur Karte: https://drive.google.com/file/d/0B-YJDxFXEbWmN19PR3Q0aUloUm8/

 

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Der Kronprinz (Dienstag, 03 Juni 2014 09:55)

    Du wolltest Einsamkeit, jetzt hast du sie...


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