Afrika im Klosterhof

Medesano - Sivizzano (18km)

   Wie gut, dass ich eigentlich sehr gerne Pizza esse. In fast jedem kleinen Ort gibt es eine Pizzeria und die Angebote haben Wagenradformat. Ich war von der Qualität noch nie enttäuscht und preislich gibt es zu Deutschland keinen Unterschied, manchmal sind die Pizzen sogar preiswerter. Außerdem wird oft noch ein Espresso nachgeschoben - auf Kosten des Hauses. Jeden dritten bis vierten Tag ist daher eine Pizza angesagt, dazwischen immer mal wieder eine leckere Pasta. Noch schmeckt mir alles hervorragend, ich weiß nur nicht, ob das in fünf Wochen, zum Ende meiner Pilgerreise, auch noch so sein wird.

   Gestern Abend saß ich mal wieder vor “Pizza Gorgonzola Speck“, als zwei Frauen, beide ungefähr in meinem blühenden Alter, durch die Tür kamen. Unverkennbar waren sie keine Einheimischen, sondern trugen die deutsche Staatsbürgerschaft irgendwie unverkennbar vor sich her. Außerdem hatte die eine den roten Rother-Wanderführer zur Via Francigena in der Hand, die andere den gelben vom Stein-Verlag. Ich erinnerte mich, dass ich vor dem Dom von Fiorenzuola auf die Entfernungen zwei Frauen mit Rucksack gesehen habe, sie müssten es sein. Und die Wanderführer outeten sie als deutsche Pilger. Sie setzten sich an den Nachbartisch und ich “baggerte“ sie an, natürlich auf der reinen Mitpilger-Ebene. Bis ihr Drei-Gänge-Menü aufgetragen wurde, unterhielten wir uns etwas. Ute und Renate kommen aus Hessen und sind diesmal in Aosta gestartet. Die Poebene war ja wohl ganz schlimm, also wenn sie das gewusst hätten, wären sie da mit dem Zug durchgefahren. Und hoffentlich wird das jetzt mal wieder besser. Sie übernachten nur in Hotels, Pilgerherbergen ziehen sie “wegen der mangelnden Hygiene“ nicht in Betracht. Auha, Pilgerfreunde werden wir nicht! Der Rother empfehle ja als nächstes Etappenziel Sivizzano, aber da gibt es kein Hotel. Deshalb fahren sie morgen früh von Medesano mit dem Bus nach Fornovo und wandern dann über Sivizzano hinweg bis Cassio. Da gibt es dann wieder ein Hotel. Macht das, Mädels, macht das! Als mein zweites Glas Bier leer ist, verabschiede ich mich von ihnen und wünsche einen “Bon Camino“.

   Während Ute und Renate wohl schon in Fornovo sind, schließe ich die Herberge in Medesano ab und spanne mich vor meinen treuen Freund, den Wheelie. Bisher habe ich wirklich noch keine Sekunde bereut, ihn mir angeschafft zu haben und denke, dass ich selbst in den Bergen des Apennin meine Meinung nicht ändern werde.

   Bei zunächst noch angenehmen Temperaturen wandere ich anfangs auf dem breiten Fuß- und Radweg an der Hauptstraße entlang, anschließend auf einer ruhigeren Nebenstraße. Mir geht durch den Kopf, dass ich bereits in einer Woche am Mittelmeer sein werde und meine Füße dort bade. Kaum zu glauben! Zehn Wochen bin ich jetzt unterwegs, fünf habe ich noch vor mir. Ab und zu fallen mir kleine Begebenheiten ein und ich sage mir dann: “Meine Güte, wie lange ist das schon her!“ Doch keinen Tag möchte ich missen und freue mich darauf, was noch kommt.

   Jetzt gerade aber beleidigt erstmal ein unsäglicher Gestank meine Geruchsnerven. Ein lautes Quieken und Grunzen gibt mir die Erklärung. Ich komme gerade an einer Schweinezucht vorbei, verbunden mit einer Produktionsstätte für Parmaschinken. “Vendita diretta“, sozusagen “Verkauf ab Werk“, steht auf einem großen Schild. Sehr praktisch, “Kurze Beine, kurze Wege“, fällt mir dazu spontan ein.

   Gedanklich setze ich mich danach mit Kerstins Blogeintragung von vor etwas mehr als drei Wochen auseinander. Sie beschreibt dort die Durchquerung von zwei Furten, auf die ich in etwa einer Stunde auch treffen werde. Knietief musste sie mit Hans-Jürgen damals durchs Wasser, knöcheltief anschließend durch Schlamm. Man könnte diese Furten auf der Hauptstraße umgehen... soll ich? Oder riskiere ich es? Schließlich waren die beiden bei schlechtem Wetter hier, seitdem herrscht aber eine ausgesprochene Dürre. Also rein ins Abenteuer!

   Nach Verlassen der Nebenstraße und Unterqueren der Autobahn komme ich in den Schwemmlandbereich des Flusses Taro. Ein schöner Weg schlängelt sich zwischen kleinen Birken, hohen Büschen und Ginster hindurch. Fasane flattern plötzlich neben mir auf und jagen mir einen ordentlichen Schrecken ein. Gespannt warte ich auf die erste Furt. Als ich die Stelle erreiche - finde ich nicht einen Tropfen Wasser, der Schlamm davor und dahinter ist knochentrocken und steinhart, ich sehe aber noch die tiefen Löcher, in denen vor vielleicht noch nicht allzu langer Zeit mal Wanderstiefel steckten. Fast ein wenig enttäuscht gehe ich weiter und erwarte die zweite Furt. Auf einmal höre ich ein Rauschen! Au weia! Das hört sich kritisch an. Oder rauschen nur die Blätter der Bäume? Kann nicht sein, es ist nahezu windstill. Das Rauschen bleibt, wird sogar immer lauter. Ich stelle mich gerade geistig auf mir bekannte skandinavische Furtenverhältnisse ein, da kommt die Entwarnung. Die Büsche links lichten sich und ich stelle fest, dass sich unmittelbar neben mir das Flussbett des Taro befindet. Weite Bereiche davon liegen zwar auch trocken, aber über eine Staustufe, unmittelbar unter einer Eisenbahnbrücke, rauscht noch einiges an Wasser hinab. Bis hierher muss es aber die zweite Furt irgendwo gegeben haben. Ich habe sie - mangels jeden Wassers - schlicht übersehen! Und ich wollte schon fast an der Hauptstraße entlang... So ist es halt: Et kütt wie et kütt!

   Ich überquere den Taro auf einer großen Brücke. Links und rechts einer relativ schmalen Wasserrinne breiten sich große Schotterbänke aus, auf denen immer mal wieder ganze angeschwemmte Bäume liegen. Fischreiher stehen in absoluter Starre und warten auf einen vorbeischwimmenden Leckerbissen, zwei Angler sitzen am Ufer und tun das Gleiche. Noch von der Brücke aus sehe ich auf der anderen Seite den Supermarkt von Fornovo di Taro. Da muss ich rein.

   Bei der telefonischen Reservierung meiner Unterkunft in Sivizzano wurde ich ausdrücklich darüber informiert, dass es dort zwar eine Küche, aber keine Lebensmittel zu kaufen gäbe. Ich solle doch 700 m vor der Herberge in dem kleinen Lebensmittelladen des Dorfes etwas einkaufen oder schon im Supermarkt von Fornovo. Da ich nicht weiß, ob der kleine Laden eventuell schon Mittagspause hat, wenn ich in Sivizzano ankomme, entscheide ich mich eben für den Supermarkt. Den Wheelie lasse ich mal wieder kurz hinter dem Eingang in einer Ecke stehen und wühle mich dann durch die engen Gänge des vielbesuchten Konsumtempels. An die mir zugeworfenen Blicke habe ich mich schon gewöhnt, solche verschwitzten Gesellen in kurzer Hose, mit Schlapphut und Rucksack gibt es nicht allzuoft. Die Kassiererinnen sagen mir erst gar nicht den Rechnungsbetrag, sondern zeigen nur auf die Zahl. Ausgerüstet mit Lebensmitteln für mindestens vier Tagesmahlzeiten bin ich nach 20 Minuten wieder draußen, setze mich mit dem gekauften Topf Pfirsichjoghurt auf eine Bank und schlemme genüsslich. Damit habe ich den Einkauf gleich mit einer Rast und mit einem Mittagessen verbunden.

   Von jetzt an wird es wieder immer wärmer. Die noch sieben Kilometer lange Strecke bis Sivizzano auf der leicht ansteigenden kleinen Straße ist kein Problem, aber die sich entwickelnde Hitze ist irgendwann doch anstrengend. Dabei macht es immer wieder viel aus, ob ich im Schatten von Häusern oder Bäumen gehe oder in der prallen Sonne. Der Unterschied  ist jeweils beträchtlich und ich hoffe nur, dass entlang der Strecke im Apennin viele Bäume wachsen.

   Beim Ortseingangsschild von Sivizzano bin ich noch lange nicht an der Herberge. Ewig lang zieht sich dieser Ort durch das kleine Tal und will kein Ende nehmen. An einer Kapelle komme ich vorbei, an Ausgrabungen römischer Besiedlungsreste, am angekündigten kleinen Lebensmittelladen, an einer Hundefutterfabrik neben dem Friedhof (komische Nachbarschaft!), bis ich endlich die Kirchturmspitze zwischen einer kleinen Anhäufung von Häusern erblicke. Und direkt neben der Kirche stoße ich auf das große Tor zur Herberge.

   Auf mein Klingeln hin kommt Erica aus dem Haus gestürzt und schließt mir das Tor auf. “Musici Wagner?“ fragt sie lachend, schüttelt mir die Hand und führt mich über einen mit grobem Pflaster belegten kleinen Hof zu einem schönen Arkadengang. Vor und in den Arkaden stehen große Töpfe mit Blumen und drei Holzbänke und hinter einem Arkadenbogen führen drei Treppenstufen durch eine alte, schwere Holztür hinunter in einen angenehm kühlen Gewölbekeller. Und in dem Keller: Tische, Bänke, ein paar Stühle und sechs Liegen. Mein Nachtdomizil für heute. Mal was ganz anderes!

   Erica klärt mich auf. “Dies war im 12. Jahrhundert mal der Vorratskeller eines kleinen Benediktinerklosters. Einige benachbarte Gebäude gehörten damals noch dazu. Zum Beispiel gab es noch eine recht große Herberge, in der Rompilger, aber auch Händler aufgenommen und versorgt wurden. Wahrscheinlich unter Napoleon wurde das Kloster geschlossen, verfiel zum Teil oder wurde andersweitig genutzt, z.B. als Kuhstall. Die Kirche ist erst im 18. Jahrhundert dazugekommen, erbaut teilweise aus den Steinen des alten Klosters.“ Ericas Mann kommt hinzu und rundet das Bild noch ab. “In meiner Kindheit war hier in dem Gewölbe das Kino von Sivizzano. Es gehörte zu meinem regelmäßigen Sonntagsvergnügen, mir hier Filme anzusehen.“ Ich schlafe also in einem Raum mit Vergangenheit.

Erica und ihr Mann wohnen mit in dem Gebäudekomplex, zu dem auch die Herberge gehört, und sind so etwas wie die Herbergseltern. Sie betreuen auch mit im Haus wohnende Afrikaner, genauer gesagt, einen Mann und drei Frauen aus Kamerun, die am Sonntag hier auf dem Hof und im ganzen Gebäude ein großes afrikanisches Fest veranstalten. Ein afrikanischer Chor wird in der Kirche singen, es wird gemeinsam gekocht, gegessen, getrunken und getanzt - ich hätte nicht übel Lust, zu bleiben und mir das alles anzusehen. Aber ich würde drei Tage verlieren und das ist mir ein wenig viel. So gebe ich mich damit zufrieden, ihnen bei den Vorbereitungen zuzusehen. Heute schon wird in der Pilgerküche etwas vom Essen vorbereitet, es wird geputzt, Tische und Stühle werden aufgestellt und Luftballons aufgeblasen. Dazu schallt afrikanische Musik über einen italienischen ehemaligen Klosterhof oder die vier symphatischen Kameruner singen und lachen selbst - und Erica singt lauthals mit.

 

Zur Karte: https://drive.google.com/file/d/0B-YJDxFXEbWmaWdRRlpsXzB4VU0/

 

 

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Kommentare: 2
  • #1

    Der Kronprinz (Dienstag, 03 Juni 2014 10:11)

    Na, da hätte es der pilgertochter doch bestimmt auch gefallen. Aber sag mal: jeden Tag Pasta, Pizza gorgonzola/Speck inkl. Espresso?! Das ist dich wohl nicht wahr! Was ist mit der Bescheidenheit der Pilger (so wie auf dem jakobsweg) passiert...?!

  • #2

    Die Pilgertochter (Samstag, 14 Juni 2014 22:45)

    Ja, da sachste wat, Dani! Mir blutet auch schon beim Lesen das Herz...


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