Über den Pass

Ostello della Cisa - Pontremoli (23 km)

   Roland umkreiste mich, wie eine Motte das Licht. Wenigstens schreiben wollte ich den Blogartikel, auch wenn ich wusste, dass ich ihn wieder mal nicht ins Internet werde stellen können. Entweder sind Klostermauern zu dick, ich tummel mich in der Internetwüste oder es gibt irgendwelche technischen Probleme, die ich ohne meinen Sohn Sebastian nicht lösen kann. Den erreiche ich aber auch nicht, kein Netz. Das nervt mich schon reichlich, und dann noch der kreisende Roland! Er sah, wie ich konzentriert schrieb, aber immer wieder sprach er mich an. Dann wandte er sich mal wieder ab ("Lass dich nicht stören!"), schaute mal auf das Bild an der Wand, mal auf ein anderes, ging zur Theke, holte sich ein Bier, kreiste wieder um mich herum ("Lass dich nicht stören!"), ging wieder zur Theke und holte noch ein Bier, stellte es vor mich hin ("Für dich, dann flutscht es besser. Aber lass dich nicht stören!") und setzte sich dann doch an meinen Tisch. Mühsam und mehr schlecht als recht bekam ich den Artikel noch fertig und widmete mich dann Roland, oder besser: seinem spendierten Bier.

   Um 19.30 Uhr gab es Abendessen, drei Gänge, köstlich. Risotto u.a., mit so dicken Reiskörnern, wie ich sie noch nie gesehen habe. Roland meckerte nicht, erstaunlich. Nebenan feierte eine Wandergruppe (keine Pilger) einen Geburtstag. Eine Geburtstagstorte wurde hereingetragen, und fünf Minuten später standen zwei Stücke davon bei uns auf dem Tisch, herrlich, also vier Gänge. Wenn jetzt noch volle Weingläser aufgetaucht wären, hätte ich die Flucht ergriffen.

   Draußen wurde es schon fast dunkel und ich war drauf und dran, auf mein kaltes Zimmer zu gehen, als ein junger Radfahrer mit Rucksack zur Tür hereinkam. Die Betten waren durch die Wandergruppe und Roland und mich eigentlich alle belegt, aber es fand sich noch ein Notbett. Sascha, gertenschlank wie eine durchtrainierte Dachlatte, war erleichtert, noch länger sollte seine Etappe für heute dann doch nicht werden. 134 Kilometer hatte er in den Beinen. Gestartet ist er vor einer Woche zu Hause in Augsburg. Seine Freundin ist mit Auto und Kind schon vorgefahren. In ein paar Tagen wollen sie sich ca. 100 Kilometer südlich von Rom in einem kleinen Ort am Meer treffen und dort gemeinsam Urlaub machen. Vor acht Jahren hatten sie sich dort kennen- und liebengelernt. Für heute war er glücklich, angekommen zu sein. Jetzt wollte er noch ein wenig quatschen und dann ins Bett. Roland und ich leisteten ihm noch etwas Gesellschaft, so viel Zeit musste sein.

   Als ich heute Morgen zum Zwieback-Frühstück runterkomme, ist Roland schon damit fertig. Er ist aufgeregt wie ein Dalmatinerwelpe, wenn die Futterdose geöffnet wird. Er will los. "Die Sonne scheint, und die frühe Sonne zaubert das schönste Licht auf die Berge. Ich bin schon etwas mehr als ein Hobbyfotograf, da legt man auf sowas Wert." Jaaaaa, Roland! Er wirft sich seinen Rucksack auf den Rücken, hängt sich sein Monstrum von Kameratasche um den Hals und weg ist er. Schon gestern hatte er mir gesagt, dass er, genau wie ich heute, die Passstraße bis Pontremoli hinuntergehen will, deshalb muss ich mir mit meinem Start noch etwas Zeit nehmen, um Abstand zwischen uns entstehen zu lassen. Das fehlt mir auch noch, auf ihn auflaufen, und dann habe ich ihn den ganzen Tag an der Hacke. In diesem Moment kommt Sascha in den Frühstücksraum und wir unterhalten uns noch etwas, über seine kleine Familie, seine Fahrradleidenschaft, seine fast asketische Lebensweise, über die Via Francigena, über das Pilgern allgemein. Irgendwann halte ich den Vorsprung von Roland für ausreichend. Ich verabschiede mich von Sascha und bitte ihn dringend, bei der Abfahrt die schadhafte Passstraße hinunter vorsichtig zu sein.

   Eine halbe Stunde nach meinem Abmarsch vom Ostello stehe ich oben auf dem Cisa-Pass. 1041 m hoch bin ich jetzt wieder, höher werde ich auf meinem Weg nach Rom nicht mehr kommen. Die Ausblicke zurück und zur anderen Seite hinunter sind nahezu umwerfend, Roland wird beim Fotografieren ausgeflippt sein. Die zwei kleinen Souvenirläden und die Bar auf der Passhöhe sind noch geschlossen und auch das Tor zur Kapelle Santuario della Madonna della Guardia ist zu. Eigentlich müsste ich jetzt hier an dieser Kapelle vorbei weiter in den Wald und auf den Berg gehen, aber die Wegbeschreibung in meinem Wanderführer hat mich sehr schnell davon überzeugt, dass das für mich und meinen Wheelie nicht infrage kommt. "Steil bergauf auf Schotterpfaden", "Kletterpartien über Weidezaunleitern", "kerniger Abstieg", "mit Hilfe von Trittsteinen über den Bach" sind nur einige Bemerkungen, die mich auf der Passstraße weiterziehen lassen. Und die ist trotz einiger langgezogener Serpentinen in der Kilometerzahl nicht länger.

   Der Passo della Cisa wird auch "Das Tor zur Toskana" genannt. Genau, seit heute 8.30 Uhr, befinde ich mich in der Toskana. In dieser Region werde ich die meisten Kilometer der Via Francigena-Route auf italienischem Boden zurücklegen. Die bekannten Bilder mit den Pinien und Zypressen bekomme ich noch nicht zu Gesicht, da muss ich mich noch ein paar Tage gedulden, aber mit dem Wetter und den herrlichen Ausblicken empfängt sie mich schon standesgemäß.

   In dem Augenblick, als ich in vollen Zügen den Ausblick genieße, radelt Sascha an mir vorbei, ruft mir nochmal ein "Bon Camino" zu und rollt nun mit immer größer werdender Geschwindigkeit die Passstraße hinunter. In diesem Moment muss ich wieder an den Umbau meines Wheelies zur Seifenkiste denken. Das wäre doch jetzt was: noch zwei Räder mehr dran, oben drauf setzen und dann Vollgas! Aber es wird auch so herrlich. 20 Kilometer trudel ich die Straße bergab nach Pontremoli, habe überhaupt kein Verlangen nach einer Rast, sondern könnte nur laufen, laufen, laufen. Tief unten in den Tälern und an den Hängen sehe ich kleine Dörfer mit ihren Kirchturmspitzen, umgeben von Eichen- und Kastanienwäldern, und manche Bergspitzen tragen noch etwas Schnee. War ich die ersten beiden Stunden noch nahezu alleine auf der Straße unterwegs, so erscheinen sie ab 10 Uhr dann doch wieder vermehrt auf der Bildfläche: unsere Motorradfreunde. Aber so schlimm wie gestern wird es nicht.

   Kurz nach der Mittagszeit bin ich in Pontremoli. Ein kleines, überschaubares Städtchen, mit einem gewissen Flair. Enge Gassen, kleine Plätze, Arkadenbögen, Bars und Gelaterien. Spontan fällt mir ein, wie herrlich es doch wäre, wenn mich permanent so ein italienischer Eisverkäufer mit seinem Verkaufsfahrrad begleiten und mich in Intervallen von zwei Stunden mit einer gehörigen Portion Eis versorgen würde. Boah, ich darf gar nicht daran denken... Aber man kann nicht alles haben.

   Eine Stunde lass ich mir in der Altstadt Zeit, dann frage ich mich zu meiner Unterkunft durch, dem Convento Cappuccini. Einer der letzten drei Kapuzinermönche öffnet mir nach meinem Klingeln das Tor, bittet mich überaus freundlich herein, stempelt mir meinen Pilgerpass und führt mich auf mein kleines, aber feines Zimmer. Immer wieder bin ich fast gerührt darüber, mit welcher Warmherzigkeit und Gastfreundschaft ich gerade in Klöstern aufgenommen werde. Gerne lasse ich immer eine Spende zurück.

   Meine heutige Entspannungsphase erfährt ihren Höhepunkt, als ich mit Sebastians unschätzbarer Hilfe endlich die letzten Blogberichte ins Internet gestellt bekomme. Sorry, liebe Leser, im Wesentlichen war es wirklich ein technisches Problem, obwohl Schwierigkeiten mit dem Internetempfang auch eine Rolle spielten und auch immer wieder wahrscheinlich eine Rolle spielen werden. Also nicht ungeduldig werden oder sich Sorgen machen! Irgendwann tauche ich wieder auf der Bildfläche auf.

   Genau wie Roland! Als ich zu einem kurzen Abendsnack nochmal in die Altstadt gehe und mich draußen vor eine Bar setze, blicke ich auf einmal unvermittelt in die strahlenden Augen von meinem Knötterkopp. Er sitzt am Nachbartisch und winkt mich ran. "Komm, setz dich her! Wie war es bei dir heute? Die Strecke war ja in Ordnung, aber mein B&B ist ja wohl gaaar nix...!" Irgendwie fange ich an, ihn zu mögen. Er hat so einen gewissen Unterhaltungswert.

 

Zur Karte: https://drive.google.com/file/d/0B-YJDxFXEbWmaXVtTDNONGVHOGM/

 

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Der Kronprinz (Mittwoch, 04 Juni 2014 09:20)

    Hahaha! Bin ja mal gespannt wie lang der dich noch verfolgt...


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