Dem Pilger eine Spende

Aulla - Sarzana (18 km)

   In der Herberge von Aulla kam abends noch eine Gruppe von "Hobbits" an. Hobbits sind die sog. Pilger, die mit dem Bus angekarrt werden, richtigen Pilgern in den Herbergen die Plätze wegnehmen, am Tag vielleicht für zehn Kilometer die besonders reizvollen Strecken abgehen und dann wieder in den Bus steigen, um sich zur nächsten Herberge fahren zu lassen. Mich störte es in diesem Falle nicht, weil noch genügend Betten zur Verfügung standen, aber grundsätzlich habe ich schon meine Probleme mit dieser Art des "Pilgerns".

   Zu spüren bekomme ich das morgens früh. Schlangestehen vor dem Bad ist angesagt, und das kann ich ja gar nicht haben. Wenn dann noch Toiletten und Waschräume getrennt sind, heißt das zweimal Schlangestehen. Ätzend!!! Meine zwei französischen Zimmergenossinnen Mart und Anni haben es cleverer gemacht. Die sind einfach schon um 6 Uhr losgezogen, als ihre Hobbit-Landsleute noch schwer an ihren Matratzen horchten. Na ja, trotzdem bin ich um 7.30 Uhr weg.

   Heute geht es nochmal ans Eingemachte, wahrscheinlich ans Anstrengendste, was mir auf dem Weg noch bevorsteht. Jeweils 600 m im Auf- und Abstieg sind es, aber das ist nur eine Zahl. Bei einer langen Strecke geht es behutsamer hoch, bei einer kurzen knackiger bis sausteil. Bei Asphalt oder auf einem breiten, gut befestigten Weg sieht die Sache anders aus, als auf einem steinigen, ausgewaschenen, von Brombeeren überwachsenen Pfad. Und ich habe heute nur die jeweils zweiten Alternativen vor der Brust. Das heißt, die ersten drei Kilometer geht es noch eine kleine Straße bergan, dann wird es ruppig. Die Straße macht fast Spaß. Die wenigen Autos, die mir begegnen, machen sich schon vorher bemerkbar, indem sie vor jeder Kurve hupen und so eventuell Entgegenkommende warnen. Es ist erstaunlich, wie schnell ich an Höhe gewinne, wie grandios die Ausblicke werden, wie angenehmer die Luft. Die Sonne ist gnädig zu mir und deckt sich den ganzen Morgen mit einer dünnen Wolkendecke zu.

   Mitten in diesem Aufstieg der Kategorie 1 auf der Straße höre ich plötzlich eine Glocke hinter mir leuten, als wolle sie sagen: "Huhuuu, schau dich doch mal um!" Als ich es tue, sehe ich den Ort Bibola wie gemalt auf einer Bergspitze liegen. Ganz oben eine Burgruine, rechts daneben die Kirche und drumherum, den Berghang "hinunterfließend", die Häuser, allesamt angestrahlt von der Morgensonne, ein tolles Bild.

   Eine Viertelstunde später komme ich nach Vecchietto, dem letzten Ort, den die Straße noch erreicht. Das Erste im Dorf ist ein Parkplatz, wo die Autos einiger Einwohner stehen. Daneben ist eine Bushaltestelle mit Wendeplatz. Immerhin ist dieses einsame, hochgelegene Dorf sogar mit dem öffentlichen Nahverkehr verbunden. Ins Dorf jedenfalls dürfen Autos und Bus nicht, auf der "Dorfstraße" können höchstens drei Menschen nebeneinander gehen.

   Als ich vorbeikomme, hat sich gerade der wöchentliche Lebensmittelwagen rückwärts so weit wie möglich ins Dorf vorgeschoben, netterweise genau bis dorthin, wo eine kleine Bank am Straßenrand steht. Dort sitzen im Moment zwei alte Frauen und warten, bis sie an der Reihe sind. Der Händler bedient eine andere Frau und unterhält sich mit allen dreien lautstark. Das wird auch notwendig sein, denn um ihn herum halten sich mindestens 250 Lebensjahre auf. Außerdem bringt er wohl die jüngsten Neuigkeiten aus dem Tal in diese dörfliche Einsamkeit, und die müssen auch schonmal kommentiert werden. Als ich im Vorübergehen grüße, ruft er mir hinterher und winkt mich zu sich. Er schnappt sich ein Brot aus seinem Verkaufsregal, stopft es in eine dünne Plastiktüte und drückt sie mir in die Hand. Die Frau, die er gerade bedient, legt lachend noch einen Apfel und eine Banane obendrauf. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, außer "Belissima, mille grazie!", aber sie winken nur ab und rufen mir ein "Bon camino" nach.

   Am Brunnen und am Waschhaus vorbei komme ich zum Dorfende - und ab jetzt wird es hart. Eineinhalb Stunden lang muss ich richtig arbeiten, schuften, schwitzen, stolpern, mich von Brombeeren kratzen lassen, den Wheelie hinter mir herzerren, mich von Fliegen und anderen lästigen Flugobjekten ärgern lassen. Ich sehe aber auch Wein und Olivenbäume. Männer mit Strohhüten sind in den kleinen Olivenhainen mit ihren Motorsensen beschäftigt und halten das Gras flach. Irgendwann wird der Weg durch den Wald eng, sehr eng. Extrem steil geht es nach links ab, ausrutschen sollten weder ich noch mein Wheelie. Ich erkläre diesen Weg hiermit zur Kategorie 4.

   Doch irgendwann hat auch er mal ein Ende. Unvermittelt trete ich auf einmal aus dem Wald heraus und bin auf einer breiten Wegekreuzung. Ich stehe oben auf dem Pass. An dieser Stelle hätte ich mich gefreut, eine Bank vorzufinden, aber leider vergebens. So gehe ich langsam weiter und erhole mich eben dabei. Der Weg ist breit, läuft fast eben wieder durch schattigen Wald und die Blicke, die ich manchmal durch die Bäume hindurch erhaschen kann, wecken wieder die Lebensgeister und bauen auf. Als ich dann noch ziemlich sicher bin, weit am Horizont das Meer erkennen zu können, weicht das Ausruhbedürfnis sogar einer gewissen Euphorie. So weit bist du schon, das Mittelmeer ist in Reichweite! Morgen werde ich mit den Füßen drinstehen und übermorgen wohl einen ganzen Tag daran entlangwandern.

   Der weitere Abstieg entwickelt sich dann doch auch nochmal zum Sahnestückchen. Sehr steil, teilweise durch ausgespülte Erosionsrinnen, in der prallen Sonne, es zieht sich lange hin. Jetzt mache ich eine Pause unter einem schattigen Busch, mitten auf dem Weg. Mit einem erschöpften Körper diesen Abstieg zu machen, könnte gefährlich werden. Nicht "auf den letzten Kilometern" noch was riskieren!

   Wohlbehalten komme ich letztendlich unten an und bin damit in Sarzana, dem netten, lebendigen Städtchen in der Schwemmlandebene des Flusses Magra. Eigentlich hätte ich von Aulla aus nur diesem Fluss folgen müssen, aber dann wäre ich mehr als doppelt so weit unterwegs gewesen.

   Schön ist es hier! Blumengeschmückte Gassen, kleine Läden und Gastronomien, schöne Plätze, die Kathedrale Santa Maria Assunta mit ihrer Marmorfassade und kein Autoverkehr in der Altstadt. Langsam ziehe ich an allem vorbei und lande schließlich am Convento San Francesco, meiner Unterkunft. Gleichzeitig mit mir erscheinen Mart und Anni auf der Bildfläche, anscheinend haben sie einen anderen Weg durch die Stadt genommen.

   Don Rienzo öffnet uns die Tür und zeigt uns die Räume. Jawohl, "Räume", denn wenn es eben geht, werden Männer und Frauen getrennt untergebracht. Es gibt keine Betten in diesen Räumen, sondern nur Matratzen, die wir uns an passender Stelle auf den Boden legen. Bei Mart und Anni gibt es aber noch etwas anderes im Raum: im wahrsten Sinne des Wortes säckeweise große Schokoladenostereier. Don Rienzo fordert uns auf, möglichst viel davon zu essen. Nachdem er sich verabschiedet hat, öffnen wir Drei vorsichtig eine bunte Eiverpackung und siehe da: Die Eier bestehen aus bester Nussschokolade und schmecken richtig gut. Also ein Ei kommt morgen in den Rucksack!

   Zwei Stunden später kommt noch eine Pilgerin, Maria aus Südtirol. Komischerweise wird sie zu mir in den Raum geschickt. Wie soll ich das verstehen? Ist mir ja wurscht, nur ich verstehe das System der Belegung nicht. Muss ich auch nicht!

   Am frühen Abend kommt auch noch Roberto, ein junger Italiener aus Parma, mit seinem Hund. Maria ist erst nicht begeistert, mit dem kleinen Vierbeiner den Raum zu teilen. Ich leiste ein wenig Überzeugungsarbeit und  glaube, Roberto ist mir dankbar. 100 Kilometer ist er in seinen ersten drei Tagen auf der Via Francigena gelaufen, hat Blasen und ein schmerzendes Knie. Er ist ein symphatischer Kerl und was er mit seiner Gesundheit macht, sollte mir egal sein, aber über 30 Kilometer am Tag sind für den kleinen Hund zu viel. Krankenschwester Maria verarztet ihn und ich rede ihm bezüglich der Kilometerzahl etwas ins Gewissen. Er gelobt Besserung, wollen wir es mal glauben.

 

Zur Karte: https://drive.google.com/file/d/0B-YJDxFXEbWmSkF5bFdyb28wMk0/

 

 

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Kommentare: 2
  • #1

    Der Kronprinz (Donnerstag, 05 Juni 2014 15:08)

    Jetzt auch noch Schokolade?! Ich glaub´s ja nicht! Du kommst bestimmt "fetter" nach Hause als vor der Wanderschaft. Aber echt der totale Wahnsinn: Zu Fuss bis zum Mittelmeer?!?! Unfassbar!!!!!!!!

  • #2

    Die Pilgertochter (Sonntag, 15 Juni 2014 21:46)

    Boooooah! Wieso gab es keine Schokoladeneiersäcke auf dem Jakobsweg?!? Ich hätte drin gebadet! Ich hoffe, du bringst mir wenigstens einen Eimer Schokoeier mit!


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