"Kurzarbeit"

Ponte d'Arbia - Buonconvento (8 km)

   Heute kommt es zum Gipfel der Faulheit! Ganze acht Kilometer lege ich zurück und habe noch nicht mal ein schlechtes Gewissen. Ich muss das erklären! Durch meine unfreiwillige Busfahrt unter dem St. Bernhard-Pass hindurch, dadurch, dass ich nur einen anstatt zwei Tage wie geplant in Florenz verbracht habe und weil ich die Etappen durch die Ratschläge einiger Hospitaleros und Rom-Santiago-Pilger anders gestalten und aufteilen konnte, haben sich Bonustage aufgebaut. Sie erlauben mir, mir in den letzten Tagen Zeit zu nehmen, keine übermäßig langen Strecken mehr bewältigen zu müssen und sogar noch einen "Urlaubstag" am Bolsener See einzulegen. Dennoch bin ich am 1. Juli in Rom und habe dort noch zusätzliche drei ganze Tage, um ausführlich die Stadt zu erkunden, bevor am 5. Juli mein Flieger Richtung Heimat geht. Ich finde das wunderbar, kein Druck, keine Hast, herrlich!

   Als um 7 Uhr der Wecker geht (warum sollte ich für acht Kilometer auch früher aufstehen?), sind alle anderen Pilger schon ausgeflogen. Eine halbe Stunde später ziehe auch ich die Tür ins Schloss - ohne Frühstück. Das gilt aber nur bis zur knapp 200 m entfernt liegenden Bar, wo ich gestern Abend auch das WM-Spiel Spanien : Chile gesehen habe. Ich hole mir einen doppelten Kaffee und leckeres Gebäck und setze mich nach draußen auf die Terrasse. Ich bin nicht alleine, drinnen palavern einige Männer offensichtlich über Fußball und ich meine, dass sie gerade nach den ersten Spielen die Favoritenfrage klären. Sie scheinen Sachverstand zu besitzen, denn ich höre erstaunlich oft den Namen "Germania". Aber welcher italienischer Mann hat keinen Sachverstand vom Fußball...

   Die süßen Teilchen zum Frühstück schmecken mir erstaunlich gut. Gemessen an den vielen Dickmachern, die ich in den letzten Wochen zu mir genommen habe, den Pizzas, Pastas und Eisbomben, müsste ich eigentlich gut genährt wieder nach Hause fahren. Wenn ich aber so an mir runterschaue, gehe ich nicht unbedingt davon aus, dass ich zugenommen habe. Ganz im Gegenteil! In meine Hose könnte ich im Moment noch meine Enkelin Amelie mit reinnehmen und die Waage im Bad der Unterkunft von Siena zeigte einen Wert, der mich, gelinde gesagt, erstaunte.

   Auf dem Weg war es heute früh zunächst so, als läge tiefer Schnee. Dichter Nebel drückte sich behutsam über die Hügel der Toskana, schluckte die Geräusche und ließ die Welt seltsam still und harmlos erscheinen. Die Sonne lag noch im Schlaf. Nebel ist für mich absolut kein schlechtes Wetter, vorausgesetzt, ich habe die Landschaft, die ich dabei durchwandere, auch schon mal bei gutem Wetter gesehen. Wenn sogar noch der Prozess einsetzt, wo die Sonne ihren Kampf gegen den Nebel langsam, ganz langsam gewinnt, ziehe ich die sich dann entwickelnden Stimmungen manchem zu heißen Sonnentag sogar vor. So ist es heute. An einigen Stellen am Himmel wird aus dem Einheitsgrau immer mehr ein mattes Blau und wie bei einer Riesentaschenlampe fallen Sonnenstrahlen auf die Hügel oder auf einzelne Gehöfte. Andererseits verlieren sich Zypressenreihen und der Weg weiter hinten im Grau, ganz so, als wolle der Nebel sie verschlucken. Links und rechts am Weg verzieren Hunderte von kunstvollen, mit kleinsten Wassertropfen behängte Spinnennetze Blumen und Büsche und ich bin wiedermal fasziniert davon, was die Natur fertigbringt.

   Inzwischen merke ich immer deutlicher, dass vieles leichter wird, das Ziel rückt näher. Hat mich aus diesem Grund eine so eigenartige Gelassenheit ergriffen? Oder liegt es an der Toskana, durch die ich jetzt gehe, dieser besonderen, hügelreichen, über weite Strecken baumlosen Landschaft, in der man auf geschwungenen Wegen geradezu in die Unendlichkeit hinausläuft? Jeden Tag breche ich immer wieder auf und gehe voller Vertrauen und Zuversicht weiter, Schritt für Schritt, Kilometer für Kilometer, Tag für Tag.

   Um kurz nach 9 Uhr, die letzten Pilger haben vielleicht vor einer halben Stunde die Herberge verlassen, komme ich in Buonconvento an. Don Domenico vermutet, dass ich mir nur einen Stempel für meinen Pilgerpass abholen möchte, und ist umso mehr überrascht, dass ich hier übernachten will. Als ich ihm aber erzähle, dass ich es mir leisten kann, die letzten Tage meiner Pilgerreise in vollen Zügen zu genießen, ist er sichtlich stolz darauf, dass ich mir gerade seine Herberge für einen Erholungstag ausgesucht habe.

   Kann er auch, denn sie ist mal wieder eine der Perlen auf dem Weg: penibel sauber, gemütlich eingerichtet, zentral in einer kleinen Gasse eines wunderschönen historischen Ortes gelegen, mit einer Küche zur Selbstversorgung. Don Domenico zeigt ganz persönliches Interesse an meinem Weg, erzählt von seiner Kirche und seiner Gemeinde, reserviert mir gerne auf meinen Wunsch hin die nächsten beiden Unterkünfte und bietet sich an, heute Abend für mich und die Pilger, die vielleicht noch kommen werden, zu kochen. Ich habe es geahnt, hier bin ich richtig!

 

Zur Karte: https://drive.google.com/file/d/0B-YJDxFXEbWmX05mUjk1YmJnRDg/

 

 

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Kommentare: 3
  • #1

    Lore (Freitag, 20 Juni 2014 10:34)

    Hallo Wagners,
    es kommen so wenige bis gar keine lustigen Kommentare mehr von Euch. Ich vermisse das.

    Reinhard, ´tschuldigung, mein letzter Eintrag im Gästebuch war ohne Gruß - versehentlich natürlich.

    Liebe Grüße an Reinhard und alle Wagners und alle, die sich angesprochen fühlen
    von Lore

  • #2

    Die Pilgertochter (Samstag, 21 Juni 2014 01:39)

    Haha, das find ich ja lustig, Lore! Schön, wenn wir anderen mit-entertainen können... :-)

    Und Papa, zu deinem Gewichtsverlust: Dann bekochen die Italiener dich wohl nicht so gut wie ich im letzten Jahr...

  • #3

    Der Kronprinz (Donnerstag, 26 Juni 2014 10:06)

    Wahnsinn!!! Du hast es fast geschafft. Und alleine (nicht dass ich daran gezweifelt hätte...). GO Wanderer GO!!!


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